Friedensreiter über Krieg, Abschreckung und Versöhnung: Werte als Weg aus der Eskalationsspiral

Pod­cast Friedensreiter

In ihrer neu­es­ten Fol­ge neh­men Mar­cel Spe­ker und Dr. Jochen Rei­de­geld drei bren­nen­de Kon­flikt­her­de in den Blick: Isra­els Vor­ge­hen im Gaza­strei­fen und die Fra­ge der Aner­ken­nung Paläs­ti­nas, rus­si­sche Luft­raum­ver­let­zun­gen an der NATO-Peripherie und die gesell­schaft­li­che Zer­reiß­pro­be in den USA nach der Tötung des kon­ser­va­ti­ven Akti­vis­ten Char­lie Kirk. Ihr gemein­sa­mer Nen­ner: Ohne nüch­ter­ne Sicher­heits­po­li­tik und einen glaub­wür­di­gen Wer­te­kom­pass gibt es kei­nen Ausweg.

Gaza: „Gleich­zei­tig an bei­den Sei­ten arbeiten“

Zum Auf­takt rich­tet das Duo den Blick auf den Gaza­strei­fen. Rei­de­geld beschreibt die Lage der Zivil­be­völ­ke­rung „mit Grau­en“ und insis­tiert zugleich auf einer dop­pel­ten Per­spek­ti­ve: die Ver­bre­chen der Hamas und die Ver­ant­wor­tung der israe­li­schen Regie­rung „als zwei Sei­ten der Wirk­lich­keit“ mit­zu­den­ken, ohne sie gegen­ein­an­der auf­zu­rech­nen. Frie­den sei nur mög­lich, „wenn Paläs­ti­nen­se­rin­nen und Paläs­ti­nen­ser gerech­te Lebens­ver­hält­nis­se erhal­ten und die exis­ten­zi­el­le Bedro­hung Isra­els endet“. 

Skep­tisch zei­gen sich bei­de gegen­über der Hoff­nung, die wach­sen­de Zahl inter­na­tio­na­ler Aner­ken­nun­gen eines paläs­ti­nen­si­schen Staa­tes kön­ne allein Bewe­gung brin­gen. Rei­de­geld warnt vor rei­ner Sym­bol­po­li­tik und plä­diert für einen regio­na­len Ansatz jen­seits der klas­si­schen Fixie­rung auf die Zwei-Staaten-Formel: „Ich kann nicht sagen, ob es zwei, drei oder ein Staat sein wird – aber es müs­sen gerech­te Lebens­ver­hält­nis­se für alle sein.“ Spe­ker betont, dass ein paläs­ti­nen­si­scher Staat öko­no­misch dau­er­haft auf Part­ner­schaf­ten ange­wie­sen wäre und fragt, wer des­sen Auf­bau rea­lis­tisch tra­gen könne.

Mit Blick auf die israe­li­sche Innen­po­li­tik äußert Rei­de­geld Zwei­fel, dass die der­zei­ti­ge Regie­rungs­ko­ali­ti­on den Rah­men für einen trag­fä­hi­gen Frie­dens­pro­zess set­zen kön­ne. Zugleich skiz­ziert er eine sicher­heits­ethi­sche Gren­ze mili­tä­ri­scher Mit­tel: Selbst ein voll­stän­di­ger Sieg über die Hamas schaf­fe kei­nen Frie­den, wenn Per­spek­tiv­lo­sig­keit die „nächs­te Gene­ra­ti­on“ der Gewalt hervorbringe.

NATO unter Druck: Här­te zei­gen, Eska­la­ti­on vermeiden

Im zwei­ten The­men­block ana­ly­sie­ren die Frie­dens­rei­ter die jüngs­ten rus­si­schen Ver­let­zun­gen des NATO-Luftraums – Droh­nen über Polen, Kampf­jets über Est­land. Für Rei­de­geld sind „Zufäl­le“ aus­ge­schlos­sen; die Zwi­schen­fäl­le sei­en Teil einer Stra­te­gie des Aus­lo­tens. Sei­ne Dia­gno­se aus der Lek­tü­re ost­eu­ro­päi­scher sicher­heits­po­li­ti­scher Thinktanks: Je näher an der Front, des­to kla­rer die For­de­rung nach robus­ten Ein­satz­re­geln – ins­be­son­de­re beim Umgang mit Drohnen.

Gleich­zei­tig warnt er vor einer „Kas­ka­de des Hoch­schau­kelns“: Not­wen­dig sei „Dees­ka­la­ti­on durch eige­ne Stär­ke“ – also Fähig­keits­lü­cken schlie­ßen, Abwehr glaub­wür­dig machen –, und par­al­lel die Wie­der­be­le­bung poli­ti­scher For­ma­te, von ver­trau­ens­bil­den­den Maß­nah­men bis hin zu Abrüs­tungs­ver­hand­lun­gen mit Blick auf Maß­nah­men der hybri­den Kriegs­füh­rung und Cyber­at­ta­cken. Spe­ker hält ent­ge­gen, genau die­se Sphä­re ent­zie­he sich einer Veri­fi­ka­ti­on; Ver­hand­lun­gen könn­ten leicht zur Ein­bahn­stra­ße wer­den. Rei­de­geld bleibt dabei: Klei­ne, über­prüf­ba­re Schrit­te – aber mit kla­rer Richtung.

Mit Blick auf die anste­hen­den NATO-Konsultationen nach Arti­kel 4 erwar­tet Rei­de­geld prak­ti­sche Kon­se­quen­zen: Ver­tei­di­gungs­fä­hig­keit erhö­hen, Kos­ten eines Über­griffs sicht­bar machen – und par­al­lel „eine nicht großmächte-getriebene“ Frie­dens­in­itia­ti­ve ansto­ßen, getra­gen von euro­päi­schen Mit­tel­mäch­ten und Part­nern im Glo­ba­len Süden.

USA nach der Tötung von Char­lie Kirk: Die Macht der Dehumanisierung

Der drit­te Block wid­met sich den innen­po­li­ti­schen Erschüt­te­run­gen in den USA nach der Tötung des rech­ten Akti­vis­ten Char­lie Kirk. Rei­de­geld stellt die Mensch­lich­keit an den Anfang („Ein Fami­li­en­va­ter hat sein Leben ver­lo­ren. Punkt.“) und zitiert zustim­mend die Bot­schaft von Kirks Wit­we, die dem Täter öffent­lich ver­gab. Der anschlie­ßen­de poli­ti­sche Zugriff auf das Ereig­nis – von rechts wie links – sei ein Lehr­stück in Instrumentalisierung.

Die bei­den dis­ku­tie­ren, wie schnell Kate­go­rien („die Lin­ken“, „die Coro­na­leug­ner“, „die AfD-Wähler“) Men­schen ent­mensch­li­chen und damit mora­li­sche Hemm­schwel­len absen­ken. Spe­ker erkennt „Rache“ als star­kes Trieb­mo­tiv; Rei­de­geld ver­or­tet tie­fer die „gefühl­te Unge­rech­tig­keit“, die popu­lis­ti­sche Kam­pa­gnen und sozia­le Medi­en ver­stär­ken. Hier setzt sei­ne sys­te­mi­sche Kri­tik an: Algo­rith­men, die Nega­ti­ves um ein Viel­fa­ches schnel­ler ver­brei­ten als Dif­fe­ren­zier­tes, sei­en ein unter­schätz­ter Kon­flikt­trei­ber. Regu­lie­rung sol­le nicht zen­sie­ren, wohl aber Fair­ness der Ver­brei­tungs­lo­gik herstellen.

Euro­pa, ent­wirf dich!

Über alle The­men hin­weg kehrt die Fol­ge zu einem dop­pel­ten Impe­ra­tiv zurück: hand­lungs­fä­hi­ge Sicher­heit plus nor­ma­ti­ve Rich­tung. Rei­ne Real­po­li­tik füh­re in die Sack­gas­se, rei­ne Moral in die Wir­kungs­lo­sig­keit. Rei­de­geld for­dert Euro­pa zu mehr Eigen­stän­dig­keit auf – stra­te­gisch, wirt­schaft­lich, tech­no­lo­gisch – und zu einer „Koali­ti­on der Wil­li­gen“, die eine gerech­te­re inter­na­tio­na­le Ord­nung gegen impe­ria­len Macht­wett­be­werb behaup­tet. Dafür brau­che es wie­der Ent­wür­fe, nicht nur Abwehr­re­ak­tio­nen: „Poli­tik hat eine kogni­ti­ve und eine emo­tio­na­le Sei­te – Men­schen müs­sen sich hin­ter Ideen ver­sam­meln kön­nen, die ver­bin­den, ohne auszugrenzen.“

Spe­ker warnt vor dem Gewöh­nungs­ef­fekt: Wer den demo­kra­ti­schen Ver­schleiß in den USA nur beob­ach­te, sen­ke unmerk­lich die eige­nen Alarm­gren­zen. Die „Blau­pau­se“ auto­ri­tä­rer Rhe­to­rik wer­de auf­merk­sam stu­diert – auch in Europa.

Fazit

Auch die­se Aus­ga­be des Pod­casts „Frie­dens­rei­ter“ lie­fert weni­ger fer­ti­ge Ant­wor­ten als einen kla­ren Kurs: Sicher­heit ernst neh­men, Eska­la­ti­on ver­mei­den, Legi­ti­mi­tät durch Gerech­tig­keit schaf­fen – und die Mensch­lich­keit des Gegen­übers zum Maß­stab machen. Oder, wie Rei­de­geld es zuspitzt: Nicht die Fra­ge „Zwei-Staaten-Lösung – ja oder nein?“ ent­schei­det, son­dern „Gerech­tig­keit – ja oder nein?“. Die Fol­ge endet mit einem Appell, der die Sen­dung selbst beschreibt: Wer­te sicht­bar machen, Debat­ten ver­sach­li­chen, Hoff­nung organisieren.

Der Pod­cast Frie­dens­rei­ter ist eine Koope­ra­ti­on des Insti­tuts für Theo­lo­gie und Frie­den (ithf) in Ham­burg und des Ludwig-Windthorst-Hauses (LWH), der Katholisch-Sozialen Aka­de­mie des Bis­tum Osna­brück, in Lin­gen (Ems).